Weil er da ist!

Auf dem Dach der Welt, vom 14.04. – 09.05.2011

Die Kältewelle hält an. Immerhin, die Sonne scheint und es scheint ein klarer Tag zu werden. Das ist wichtig, denn wir fahren die nächten zwei Tage in Richtung Mt. Everest Base Camp. Warum? „Weil er da ist, der Berg!“, wie der Kollege Malleroy (und nicht wie fälschlicherweise, auch von mir in meinem letzten Blog kolportiert, Sir Edmund Hillary) erklärt hat, warum er den Mt. Everest besteigen wolle. Zwischen Bergfuß und unserem Standpunkt liegen 120 km Piste, das einzig nicht alphaltierte Teilstück unserer Tour. Und ein 5.100 Meter Pass. Na dann, Berg heil!

Aber erst einmal rollt es gut dahin auf Flüsterasphalt, die ersten 10 Kilometer radeln wir noch auf dem Friendship Highway. Dann zweigt ein Feldweg ab, der extra für den olympischen Fackellauf 2008 neu ausgebaut wurde. Seitdem ist viel Schotter den Berg heruntergegangen und der Weg stellt tatsächlich eine radfahrerische Herausforderung dar. Vor allen Dingen, weil es ziemlich schnell recht knackig bergauf geht. Diesmal ist Sabine die Heldin und hält tatsächlich durch! 75 Kilometer auf schwieriger Piste, mit einem Pass, der sich dann doch als 5.200er entpuppt, und einer Abfahrt, die Mark und Bein erschüttert. Dieselbige wird mir zum Verhängnis. Mein so geliebtes und treues Koga-Rad ist nun (und von mir ja auch so gewollt) kein Mountain Bike, und so zieht es mir in einer besonders holprig-sandigen Kurve das Vorderrad weg. Mehr als eine Schramme am Knie und ein paar blauen Flecken ist nicht passiert, aber die Etappe ist für mich mental erst einmal zu Ende. Sabine und Heinz sind derweil in ihrem Element und reizen ihre Mountainbikes voll aus. Und Sabine wird am Ende die einzige sein, die die Etappe inklusive Pass komplett gefahren ist. Kompliment!

Unsere Unterkunft ist heute eine gemütliche tibetische Familienpension mit Blick auf den Mt. Everest (wenn man vom Plumsklo über eine Leiter auf das Dach steigt). Wir sind mittendrin im Familienleben, es ist warm und das Essen mit Liebe und Geschmack zubereitet.

Am nächsten Tag ruft dann der Berg, wir verabschieden uns von unserer Gastfamilie und radeln weiter in Richtung Basecamp. Gleißend steht der Mt. Everest vor uns in der Sonne, der Wind ist still und die Piste wie am Vortag. Aber was sind schon ein paar Bodenwellen, wenn der höchste Berg der Welt einen anlacht!? Auf die Dauer dann doch entnervend. Gegen Mittag dreht dann auch noch der Wind und bläst uns mit Orkanstärke entgegen. Gibt man 5 Kilometer vor dem Ziel auf und steigt ins Auto? Vernünftigerweise schon, wenn es 12 Prozent Steigung und eiskalten Gegenwind hat, die Gesundheit angeschlagen ist und es selbst bei höchsten Pedaleinsatz nicht mehr vorwärts geht. Meinen jedenfall Sabine, Heinz und ich und gönnen uns dann ein „schmutziges Bier“ auf der herrlich warmen Aussichtsterrasse des ansonsten jedoch ziemlich bescheidenen Hotels. Vor uns die Everest-Nordwand und die Flanke des Lotse. In den Knochen 100 Kilometer tibetischer Feldweg. Es gibt schlimmere Momente im Leben!


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Der Mann mit der Mütze

Auf dem Dach der Welt, vom 14.04. – 09.05.2011

Da sitzt er. Tief gebeugt über einer dampfenden Tasse Tee. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, bis zur Sonnenbrille, die er auch jetzt noch, am späten Abend trägt. Ein Sonnenallergiker? Ein Sonderling? Ein chinesischer Dissident auf der Flucht?

Wir werden es nicht erfahren, denn der Mann kommt und geht wort- und grußlos und schlürft nur schnell eine Nudelsuppe im Hotelrestaurant. Vielleicht ist ihm auch einfach nur kalt. Da sind wir jetzt beim Thema.

Lange habe ich heute durchgehalten auf dem Rad, auf dem Weg zum Dach der Tour. Der Gyatso La (5.250 m) rief, und er rief nicht nur, sondern blies uns mit eiskaltem Atem entgegen. „Wind Chill Factor“ sagt man auf Englisch, der „Windkältefaktor“, das ist die negativ gefühlte Temperatur, wenn kalter Wind weht. Also in unserem Fall -5 Grad Außentemperatur minus ca. 20 Grad Wind Chill, macht gefühlte minus 25 Grad. Sabine, die sonst eigentlich immer alles fährt, schmeißt zusammen mit dem immer noch angeschlagenen Heinz recht früh das Handtuch, ich fühle mich eigentlich gut und quäle mich den immer steiler werdenden Pass auch bei den ersten Schneeflocken bis auf 4.900 m Höhe. Lade dann, weil das Begleitfahrzeug noch Einiges hinter mir ist, auf einen tibetischen Trekker um. Als der allerdings die Getreidesäcke eines ganzen Dorfes aufnimmt, warte ich auf das Begleitfahrzeug und gebe ebenfalls auf. Nicht aus Erschöpfung, es ist einfach zu kalt. Der Rhythmus „Treten, Einfrieren, Zurückrollen“ ist auf Dauer auszehrend. „Aber bergab fahre ich wieder!“, sage ich noch und verwerfe den Plan direkt auf dem Pass, als uns ein mit Eiszapfen gefüllt zu scheinender Wind entgegen bläst. Schade, denn da geht es wunderbar asphaltiert bergab, bis nach Baipa, dass auf 4.300 Metern Höhe liegt.

Dort laden wir ab, steigen im frisch renovierten und daher erstaunlich guten und vor allem heizbaren Baipa Hotel ab und wärmen uns. Erst unter der Bettdecke, dann der Dusche und schließlich unter einem Heizpilz im Hotelrestaurant. Eine Stadtbegehung des kleinen Wildweststädtchens haben wir wegen eines Eis-Sand-Sturmes abgebrochen.


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Wie Vögel gegen den Wind

Auf dem Dach der Welt, vom 14.04. – 09.05.2011

Heute hat uns der Hafer gestochen. Oder eher die Gerste, da man diese hier in Tibet eher isst. Obwohl – zum Frühstück taucht die obligatorische Tsampa, als Pulver, Brei oder wie auch immer, nicht auf, leider! Im chinesischen Kernland ist das Hotel-Frühstück oft schon jenseits von nahrhaft. In Tibet können wir eigentlich komplett darauf verzichten und verdrücken lieber Unmengen von Bananen, Äpfeln, Keksen und Müsliriegeln als Start des Tages. Dazu ein Instantkaffee oder ein frisch aufgebrühter Tee – und dann kann das tibetische Hochland kommen!
Heute kommt es besonders stark. Heinz legt eine Bronchitis bedingte Ruhepause ein und steigt auf das Begleitfahrzeug um. Und Sabine und mich sticht besagte Gerste. Bei der ersten Pause auf dem ersten Pass, der eher bescheiden und ohne viel Gegenwind daherkommt, rechne ich vor: Insgesamt 105 Kilometer bis zur nächsten Passhöhe, das ist zu schaffen. Dann nur noch 40 km strikt bergab. Können wir schaffen, müssen aber nicht. Auf jeden Fall hätte Heinz dadurch eine zugige Dorfübernachtung gespart und wir könnten unsere diversen grösseren und kleinen Wehwehchen bei einem zusätzlichen Ruhetag pflegen und wären trotzdem geradelt. Spätestens zur Mittagspause in Longma und mit einem Blick auf das Gasthaus, das sicherlich unter normalen Umständen erträglich wäre, aber eben mit zugigem Aussenklo und spartanischem Komfort daherkommt, ist Sabine überzeugt.

Also stärken wir uns mit Nudelsuppe und Eierreis, schnüren die Jacken zu und radeln los. Strikt bergan, über 40 Kilometer, durch ein karges Hochtal, dass aber durchaus seinen Reiz hat, mal mit dem Wind, mal gegen den Wind. Und es geht uns gut. Der finale Anstieg lacht und wäre wohl nur noch eine Formalie, wäre da nicht der Wind, der am Hang festhängt und stetig gegen uns bläst. Wir werden zum beliebten Fotomodell mehrerer chinesischer Tourgruppen, lassen Yak und Felder unter uns liegen und stehen schliesslich auf dem Pass. Auf 4.520 Metern Hoehe. Bei fast 0 Grad. Die Abfahrt gönnen wir uns noch, 10 Kilometer Schussfahrt, dann haben wir genug. 123 Kilometer zeigt der Tacho an, die restlichen 25 Kilometer locken zwar, doch die Kälte spricht für ein warmes Hotelzimmer. In Lhatse hat das Hotel zwar sämtliche Klimaanlagen (die ja auch als Heizung dienen können) abmontiert, nur die Halterungen hängen noch an der Wand. Aber es gibt Heizdecken!!! Das warme Bett verlassen wir nur noch auf ein schmackhaftes Sichuan-Mahl, dann fallen wir wohlig in die Federn. Und träumen von warmem Wetter.


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Wer hat Angst vorm Panchen Lama?

Auf dem Dach der Welt, vom 14.04. – 09.05.2011

Shigatse ist eine komplett andere Stadt als Lhasa. Weniger geplant als mehr gewachsen, keine sichtbare Militärpräsenz, ein deutliches Nebeneinander und zuweilen Miteinander von Chinesen und Tibetern. Shigatse lebt, und das wohl nicht zu schlecht.

Traditionell war in Shigatse der Sitz des Panchen Lama. Der ist rein religiös gesehen in der Hierachie oberhalb des Dalai Lama angesiedelt. Der Panchen Lama ist die Reinkarnation des Amitava, einem Buddha, der im Kunlun-Gebirge (etwa 1000 Kilometer Luftlinie in Richtung Westen von hier) dem Paradies vorsitzt. Der Dalai Lama „nur“ die Reinkarnation des Avalokitisvara, in China auch Guanyin und in Tibet Chenresi genannt. Also einem dem Amitava unter- und zugeordnetem Boddisattva. Einem Menschen, der die Erleuchtung erlangt und aus Nächstenliebe auf den Eingang ins Nirvana verzichtet hat. Warum auch Amitava wiedergeboren wird, obwohl als Buddha eigentlich im Nirvana nicht mehr für unsere Welt der Illusionen zuständig, ist eine gute Frage, die eine ebenso einfache Antwort hat: Nehmt alles nicht so ernst, der gute Buddha ist ein transzedentaler, also irgendwie dann doch von unserer Welt, wenn auch nur als Prinzip. Und da behaupte noch jemand, die christliche Religion wäre kompliziert!

Der Buddhismus hat also auch seine Fallstricke und einer der größten liegt in der Dualität von Panchen und Dalai Lama. Besonders grün waren sich beide nie so richtig, der Panchen Lama als nominell wichtigste Figur in Tibet, der Dalai Lama als vom Volke verehrte Reinkarnation eines grundgütigen Boddisattvas. Wer sich in Tibet Einfluß verschaffen wollte, musste diesen schwelenden Konflikt ausnutzen, und das haben die Chinesen bis zur Meisterschaft zelibriert, schon lange, bevor die volkschinesischen Truppen nach Lhasa marschiert sind.

Soviel ist auf jeden Fall klar: Der Panschen Lama residierte in Shigatse und der Dalai Lama in Lhasa. Der letzte von allen Fraktionen anerkannte, nominell 10. Panschen Lama, galt als pro-chinesisch. Der amtierende 14. Dalai Lama eher nicht. Jetzt wird es schwierig: Der amtierende Panschen Lama wählt den Nachfolger des Dalai Lamas und umgekehrt. Das ging bei der Wahl des 11. Panschen Lamas schon einmal ziemlich schief, und wird bei der Suche eines Nachfolgers des jetzigen Dalai Lamas zu einem großen Zerwürfnis führen. Denn es gibt zwei Reinkarnationen des Panschen Lamas, über die sich Chinesen und Tibeter, aber auch die verschiedenen Fraktionen der Tibeter nicht einigen können. Wer bestimmt dann über den neuen Dalai Lama und wird dieser dann ein sinophiler Robenträger?

Lange Rede, kurzer Sinn: Es bleibt schwierig, und auch der Panschen Lama war kein Kostverächter, wie wir bei der Besichtigung des Tashilhunpo, der seiner Residenz erleben können. Viel Gold und Glitter verziert die Ruhestätten vergangener Panschen Lamas. Selbst die Pilger scheinen im Sonntagsstaat gekommen zu sein und bringen meist Familie mit. Der Tashilhunpo war sicherlich das aktivste tibetische Kloster, das wir bisher besichtigt haben. Trotzdem wirkt es eher wie eine Manifestation weltlicher Macht als ein Ort der Einkehr und Transzendenz.

Am Abend fröhnen auch wir den weltlichen Genüssen und lassen uns einen Hotpot nach Sichuan Art schmecken: Ein zweiteiliger (scharf und sehr scharf) Topf auf Gasflamme, in den dann je nach Vorliebe Fleisch, Gemüse und Meeresfrüchte geschmissen wird. Wärmt und desinfiziert. Und stärkt für die nächsten Pässe!

Ab morgen radeln wir durch eine der ärmsten Regionen Tibets. Mit dem Internet wird es dann sehr schwierig. Am Mount Everest Basecamp gibt es zwar Handyempfang, aber wohl kein Internet Café. Es kann also sein, dass ihr erst wieder aus Nepal von mir hört.

Den Bäumen beim Wachsen zusehen

Auf dem Dach der Welt, vom 14.04. – 09.05.2011

In Gyantse bei unserer Abfahrt sind die Bäume kahl. In Penam Dzong bei der Mittagspause lugen die ersten Blätter aus den Ästen hervor. In Shigatse stehen die Bäume in voller Blätterpracht.

Wir schauen also den Bäumen beim Wachsen zu. Und haben dabei den fast perfekten Tag. Die Sonne scheint uns auf den Rücken, der Himmel ist klar, der Wind immer noch kalt, kommt aber nur selten von vorne. Es geht bergab. Zwar nur 200 Höhenmeter, aber immerhin! In zwei Stunden haben wir auf erstaunlich wenig befahrener Straße unseren Mittagsort erreicht. Verfrachten einen schweren Eisen-Glas-Tisch auf den breiten Bürgersteig und genießen bei gebratenem Reis und Nudelsuppen mit Rindfleisch die wärmende Sonne. Eine Gruppe Grundschüler, Tibeter wie Chinesen, kommt mit Schaufeln und Pickeln (den Werkzeugen) vorbei und leistet uns erst schüchtern, dann zunehmend aufgeschlossen Gesellschaft. In Richtung Shigatse wird die Kanalisation für ein neues Schulzentrum gebuddelt, da heißt es auch für die Schüler zupacken!

Gut gestärkt radeln wir mal an frisch umgepflügten Feldern, mal an Mondlandschaft vorbei in Richtung Shigatse, grüßen die Pappkameraden der chinesischen Polizei, die als Regulator am Straßenrand stehen, genießen es, die Handschuhe auszuziehen und die Fließjacken zu öffnen und ziehen mit dem ersten Baumgrün in Shigatse ein.

Zum Abschuß des Tages lasse ich mir dann leichtsinnigerweise von einer Dame, die wahrscheinlich anderes besser kann, im sogenannten „Friseursalon“ des Hotels die Haare auf ein Tibetmaß stutzen. „Du siehst ja aus wie ein Gockel!“ ruft die Dame aus, als sie ihr Werk betrachtet. Für Eitelkeit ist aber kein Platz. Ein Tag Mütze, und der Hahnenkamm liegt wieder eng am Schädel.


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…das himmlische Kind

Auf dem Dach der Welt, vom 14.04. – 09.05.2011

Die Straße führt durch karge Landschaft leicht ansteigend Richtung Horizont. Drei von weit angereiste Radler treten gleichmäßig in die Pedalen und blinzeln in die Morgensonne. Das Leben ist schön!

Vielleicht hätten wir am Vorabend gemeinsam den „Himalaya by Bike“ Reiseführer lesen sollen. Haben wir eigentlich auch, aber die Wahrnehmung ist anscheinend selektiv. „Im oberen Bereich wird der Karo La Pass in Frühjahr oft zu einem Windkanal“, steht da. Nun denn, Rückwind ist doch klasse, denkt sich da der optimistische Radler und blättert weiter. Das mit dem Windkanal stimmt, das wissen wir nun. Von orkanartigem Gegenwind hatten wir aber nichts gelesen haben wollen.

Also begeben wir uns auf Schleichfahrt. Die Sicht und das Wetter sind immer noch fantastisch. Vorbei an zwei 6.000ern und einem 7.000er mit einem imposanten Gletscher quälen wir uns gegen den Wind, bis irgendwann die Vernunft siegt. Die letzten zehn Kilometer Pass, d.h. rund 300 Höhenmeter nutzen wir das Begleitfahrzeug, um nicht völlig gegen eine Windwand zu fahren. Unser erster 5.000er Pass, leider nicht ganz mit eigenem Muskelschmalz. Aber es gibt noch einige Chancen, uns auf dieser Tour in diesen Höhen zu behaupten. Bergab balanchiert der Gegenwind dann die Fahrtgeschwindigkeit so, dass wir weder treten noch bremsen müssen – das entschädigt ein wenig für die anstrengende Bergfahrt. Vor allem aber die karge Mondlandschaft, durch die wir gemächlich rollen, fasziniert uns. Wenn die Eskimos 100 Wörter für Schnee ihr Eigen nennen, werden die Tibeter mindestens 50 Nuancen von Grau und Braun in ihrem Vokabular aufgenommen haben. Am Horizont bauen sich über der unwirtlichen Landschaft Eissillouetten auf. Bis die Landschaft lieblicher wird und die Straße in ein enges Flußtal mündet, mit tibetischen Bauernhäusern an beiden Hängen. Wir hatten uns entschieden, zwei Etappen zusammenzulegen, um einen Besichtigungs- und Ruhetag in Gyantse zu haben, was sich als richtige Entscheidung entpuppt, da sowohl das Guesthouse als auch das Restaurant in Longma, unserem eigentlichen Etappenziel, nicht mehr vorhanden ist. Mit der vollständigen Teerung des Friendship Highways sind die Gasthäuser in den kleinen Orten anscheinend nicht mehr notwendig.

Von Longma geht es tendenziell bergab nach Gyantse, das sollte eigentlich keine Probleme machen. Macht es auch nicht, nur der Wind weht uns erneut in Orkanstärke entgegen und irgendwann ist zwar noch ein wenig Kraft, aber definitiv keine Lust mehr vorhanden. Die letzten 30 km der 110 km Etappe steigen wir erneut ins Begleitfahrzeug um, und haben auch kein schlechtes Gewissen dabei. Das Gyantse Hotel verwöhnt uns dann mit heißem Wasser und weichen Betten. Den morgigen Ruhetag haben wir uns definitiv verdient!


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Wo Yaks Herzflattern bekommen

Auf dem Dach der Welt, vom 14.04. – 09.05.2011

Uns geht es gut! Wir radeln bei strahlendem Sonnenschein leicht bergan durch das Bramaputra-Tal, durch kleine tibetische Dörfer, vorbei an Aussichtspunkten, die allerdings fest in deutscher Hand sind (Bavaria Fernreisen), die Höhe von 3.700 Metern scheint ein Papiertiger. Dann schrauben wir uns die ersten Serpentinen hinauf, schnaufen ein wenig mehr, aber nicht wesentlich auffälliger als im Flachland, freuen uns auf die Passhöhe, machen nach 12 Kilometern Passfahrt auf 4.350 Metern Höhe noch einmal eine entspannte Pause – satteln wieder auf.

Und fahren gegen eine Mauer. Unerbittlich bläst wie aus dem Nichts ein eiskalter Wind, aus wechselnden Richtungen. Uns erscheint es, als käme er immer aus unserer Fahrtrichtung. Ob von vorne oder hinten: Der Wind zehrt an unseren Kräften, die Kälte macht die Muskeln steif wie Eiszapfen. 300 Höhenmeter und vier Kilometer vor der Passhöhe schmeiße ich das Handtuch, Sabine und Heinz halten tatsächlich bis zur Passhöhe durch, die Anstrengung ist ihnen aber ins Gesicht geschrieben. Auf der Passhöhe (4.800 m) ist der Wind noch stärker und kälter, da wollen wir uns nicht so lange aufhalten. Selbst die als Fotoobjekt auf die Passhöhe gestellten Yaks scheinen zu frieren und ihre Besitzer treten in einem verzweifeltem Versuch, sich aufzuwärmen, von einen Fuß auf den anderen. Also stürzen wir uns in die Abfahrt, mutig dem Wind entgegen. Zum Glück ist das Gefällte stark genug und wir müssen wenigstens nicht bergab treten. Uns zu Füßen liegt der Yangdrok Tso, einer von vier heiligen tibetischen Seen und glänzt verführerisch in Türkis. Nach kurzer Schußfahrt haben wir den See erreicht, bibbernd, erschöpft und wärmebedürftig. Ein paar Kilometer radeln wir noch am See entlang, steigen dann aber nach einem kurzen einverständlichem Nicken kollektiv in das Begleitfahrzeug. Schon am ersten Bergtag bis weit in den roten Bereich zu fahren, das hat keinen Sinn. Zumal Nangartze, unser Etappenort, immer noch auf 4.400 Metern Höhe liegt und wir noch nicht wissen, wie wir den erneuten Anstieg der Übernachtungshöhe vertragen. Die Höhe erweist sich dann als kein Problem, die scheinen wir alle drei sehr gut zu vertragen. Eher die Temparaturen, die am frühen Abend kaum noch über dem Nullpunkt liegen. Immerhin, das Hotel (!) hat brühend heißes Wasser zu bieten. Aber leider keine Heizung und Fenster, deren Isolierung die Frage logisch erscheinen lässt, warum man überhaupt welche eingebaut hat.

Folglich tragen wir alle Kleidungsschichten auf, rennen über die zugige Hauptstraße von Nangartze und wärmen uns dann in einem der Straßenrestaurants bei einer heißen Suppe, einem Lhasa-Bier auf Zimmertemperatur (ca. 5 Grad) und unserem inzwischen zum Inventar gewordenen chinesischen Kräuterschnaps Jinjiu 劲酒.


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Entlang der Teestraße

Auf dem Dach der Welt, vom 14.04. – 09.05.2011

Die „Teestraße“, besser gesagt die verschiedenen Karawanenrouten, die Indien und Nepal mit China verbanden, führten durch Tibet, und in der Regel durch Lhasa. Entlang einer dieser alten Handelswege radeln wir in den nächsten zwei Wochen von Lhasa nach Kathmandu. „Friendship Highway“ ist der moderne Name für eine der wichtigsten Handelstraßen der letzten 1000 Jahre. Seide, Tee, Porzellan und Gewürze wurde zwischen den Weltreichen Indien und China transportiert, die Umschlagplätze lagen in Lhasa und Kathmandu.

Die ersten Kilometer unserer Reise wollen jedoch so gar nichts mit einer historischen Handelstraße gemein haben. Breit und bräsig führt der Friendship Highway als Beijing Lu durch das Stadtzentrum von Lhasa. Rechter Hand bietet der Potala noch einmal einen Fotostopp, dann radeln wir durch breite Ausfallstraßen, die auch in jeder anderen chinesischen Stadt stehen könnten auf abgetrennten Radwegen in Richtung Bramaputra-Tal. Flach geht es dahin, mit leichtem Gegenwind. An die Höhe haben wir uns inzwischen gut gewöhnt, auch dank medizinischer Hilfe. Sabine und Heinz schwören auf Diamox, ich habe mich flächendeckend mit „Hong Jing Tian 红景天“ eingedeckt. Das besteht vor allem aus dem Destillat der Rhodiola Rosea. Musste ich auch googlen: Das ist die Rosenwurz und wohl inzwischen in Russland so etwas wie eine Wunderpflanze. In Sibirien wird sie „Goldene Wurzel“ (Золотой Корень, Solotoy Koren) genannt, denn der Wurzelextrakt soll Erinnerungsvermögen, Konzentration und Aufnahmevermögen steigern (Wikipedia sei Dank!). Neuen Erkenntnissen zufolge verlängern die Extrakte dieser Pflanze die Lebensspanne von Fruchtfliegen um bis zu 10 %. Na dann wird die Wurzel wohl auch gegen Höhenkrankheit helfen. Das Problem: Mit der Rhodiola Rosea geht es mir auch auf über 4.000 Meter ausgezeichnet. Was wäre ohne? Da versagt die Empirie.

Wir radeln also relativ schnaufarm durch Tibet und feiern unsere erste Etappe. In einem tibetischen Gasthaus, dass wohl auch schon zu Karawanenzeiten das erste Haus am Platze war. Von dem ursprünglich geplanten Hotel sahen wir leider nur die Grundmauern und einen emsigen Bagger, der sich durch das Resthotel fraß. Das Bedauern hält sich in Grenzen, die tibetische Familie sorgt sich rührend um uns, auch wenn der Sohn der Familie meint, chinesische Schlager zur Hintergrundmelodie seines Handys singen zu müssen – bei „Es müsste im Winter gewesen sein“ habe ich auch gegen Mitternacht gerne mitgesungen – der gute Mann hatte sein Zimmer neben meinem. Ein wenig fühlen wir uns also als Nachfahren der mutigen Karawanenführer. Immerhin – auch heute wartet hinter jeder Bergkette das Ungewisse auf uns.


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Zwei Tage in Lhasa

Auf dem Dach der Welt, vom 14.04. – 09.05.2011

Wir sind überwältigt! Von der Höhenluft, die uns stoßweise atmen lässt. Von der geballten Ladung chinesischer Militärpräsenz in Lhasa. Von der Mischung aus Prunk und Armut, die die tibetische Kultur hervorgebracht hat.

Zuerst einmal aber von der Aussicht, die uns beim Frühstück erwartet. Unser Hotel liegt etwa einen Kilometer Luftlinie vom Potala entfernt, und diese Luftlinie ist heute außergewöhnlich klar und von der Dachterrasse des Yak Hotels, in dem wir logieren, beim Frühstück zu genießen. Gegen 8:30 Uhr laufen wir los und reihen uns ein in den Pulk der Pilger, die den zentralen Tempel Jokhang im Uhrzeigersinn umrunden. Gebetsmühlen werden eifrig gedreht und Räucherstäbchen abgebrannt. Auch wir vollenden die Kora, das ist die Gebetsrunde um einen Tempel, ein Kloster oder einen heiligen Ort, wie zum Beispiel den Berg Kailash, und biegen dann in den Jokhang ab, den zentralen Tempel Lhasas, wenn nicht Tibets. Tibet Reichseiniger Songtsen Gampo begründete hier im 7. Jahrhundert das religiöse Zentrum des neu entstandenen Reiches, maßgeblicht unterstützt von seinen beiden Gemahlinen, einer nepalesischen und einer chinesischen Prinzessin. Beide brachten heilige Buddhafiguren mit nach Lhasa, die im Jokhang ihre Heimat fanden und den Weg für die buddhistische Umgestaltung des Landes ebneten. Zwei Prinzessinen aus den mächtigen Nachbarländern, die zudem noch finanzielle Mittel und religiöse Ideen mitbrachten, da liess es sich für den tibetischen König durchaus ruhig schlafen.

Das waren noch Zeiten, die Nachbarn im heiligen Stand der Ehe vereint, Heiratspolitik, um Kriege zu vermeiden. Zumindest Tibet als Land hat das sehr gut getan bzw. Tibet hat sich damals als Land definiert, als vereinigtes Königreich. Das einfache Volk hatte allerdings wenig davon und war die Folgejahrhunderte auch immer am falschen Ende der Nahrungskette. Daran hat die Herrschaft der Dalai Lamas ab dem 14. Jahrhundert (die ersten zwei davon rückwirkend in dieses Amt erhoben um eine Tradition zu schaffen, damals, als der dritte, also eigentlich der erste Dalai Lama die Herrschaft der Gelbkappensekte in Politik und Religion zementierte) leider auch nichts geändert, eher im Gegenteil. „Wir büßen jetzt für das, was wir unserem Volk über Jahrhunderte angetan haben,“ schreibt der 14. Dalai Lama in seiner Biographie.

Wo war ich stehengeblieben?

Die chinesische Militärpräsenz in Lhasa irritiert durchaus. In regelmäßigen Abständen patrouillieren fünf Soldaten in Uniform die Straßen der Altstadt. Die vier flankierenden Soldaten unbewaffnet, in der Mitte ein Soldat mit Tränengasgewehr und einer der anderen Soldaten einen kleinen Feuerlöscher im Hosenbund. Dann ist da das sichuanesische, also chinesische Restaurant, in das die tibetischen Pilger am Abend einkehren und chinesisches Essen genießen. Keine der Bedienungen lassen sich auf eine Ethnie festlegen. Ich meine tibetische, han-chinesische Einflüsse zu sehen, Spuren der Bai, einem Handelsvolk aus Yunnan zu erkennen, und da mag noch viel mehr an genetischen Spuren vorhanden sein.

In der Altstadt geht das tibetische in das muslimische Viertel über, bewohnt von den Hui, jenen Chinesen, die an den Islam glauben und die bei den Unruhen 2008 richtig in die Fresse bekommen haben. Von den Tibetern. Und dann ist da der tibetische Tante Emma Laden, aus dem süßlich Kanto-Pop säuselt. Das von Chinesen geführte Café, das mit Tibetnippes überläuft. Und natürlich der Potala, der gewaltig über Lhasa thront, wie eine Illustration aus „Das Schloss“ von Kafka. Im Zentrum eine fast vier Tonnen Gold schwere Stupa, errichtet in einer Zeit, als das einfache Volk bitterste Not litt.

Keine Angst, das war es dann auch mit der Politk von meiner Seite. Aber eine Reise durch Tibet, ein Blog einer Reise von Lhasa nach Kathmandu, das bedarf ein paar einleitender Worte.

Schwarz und weiss gibt es nie in dieser Welt, und das weiss kaum ein Volk besser als die Tibeter, für die die Welt sowieso nur eine meist subjektive Manifestation der Geisterwelt ist.

Nun können wir uns auf die Radtour konzentrieren, auf die faszinierenden Landschaften, die ehrfurchterregende Kultur und die spannende Gegenwart Tibets. Morgen starten wir unsere Radtour, mit einer Einradeletappe über 60 Kilometer, flach und gleichbleibend auf ca. 3.600 Meter Höhe. Übermorgen dann der erste Pass!