Staub gefressen

Von Isabelle Roske.
Katharina:
Optimal vorbereitet starte ich in den Tag. Frisch durchgeknetet und geschröpft vom blinden Masseur schwinge ich mich aufs Rad um die heutige apokalyptische Etappe anzutreten. Mit mir fahren zehn tapfere Mitstreiter, gerüstet durch Chinas Staub und Dreck zu fahren.

Hans und Hartmut’s Gesundheit schwächelt noch und sie sitzen mit Peter, der vorausschauend keine Lust auf Baustelle hat im Auto. Zur Betreuung ist Isabelle dabei.

Wir übrigen strampeln uns durch die Ausläufer der Stadt Yangzi-aufwärts durch die Landschaft. Oder besser gesagt durch die Idee einer schönen Landschaft. Denn sie könnte tatsächlich schön sein: rauher und zerklüfteter als die vorangegangenen Tage. Mit höheren entwaldeten Hängen und einem Fluß der Gestein und Schlamm vom Ufer reißt. Wären da die Baustellen nicht, die Lastkraftwägen und der damit verbundene Staub, der sich in unsere Haut und jede einzelne Pore frisst.

Auf halbem Weg verköstigen wir uns mit leckeren Nudeln und Reis. Zum Nachtisch gibt es frisches Obst: saftige Mangos, Drachenfrüchte und Erdnüsse. Dann geht es weiter. Wir fahren unserem Ziel und den Begleitfahrzeugen, die ins Hotel vorausgefahren sind und uns auf halber Strecke erwarten, entgegen. Etwa 35 km vorm Ziel treffen wir auf Xiao Lei und Xiao Luo. Sechs Fahrer steigen aus und ins Auto um. Zu fünft treten wir den Letzten Abschnitt, den angeblich apokalyptischen an: Ingemarie, Helmut, Reinold, Gerhard und ich. Viel gibt’s nicht zu sagen. Schön war’s nicht, aber wir sind angekommen und entspannen unsere müden Glieder.

Isabelle:
Nach einer anfänglichen Fahrradetappe leistete ich heute ein weiteres Mal Hartmut in unserem weißen, an der Heckklappe etwas ausgebeulten Wagen mit chinesischer Flagge Gesellschaft und kam so wieder in den Genuss einer bunten Mischung aus englisch-chinesischem Techno mit immer gleichem Rhythmus. Den Beat im Hintergrund schauten wir aus unserem abgeschirmten Nest, das sich mit zeitweise 100km/h im Schnellverlauf dem Ziel näherte, den Baustellenwahnsinn aus mehr oder weniger sicherer Entfernung an.

In Dongchuan angekommen trafen wir gleich auf Xiao Luo (sie), die bereits einige Minuten früher zusammen mit Xiao Luo (er – zufällig haben beide den selben Namen) im Minibus eingetroffen waren. Xiao Luo (er) hievte die Fahrräder unseres kleinen „Lazaretts“*, wie es nun auch liebevoll scherzend genannt wird, vom Dach, während Xiao Luo (sie) und ich uns im Hotel um die Pass- und Zimmergeschichten kümmerten.

Als alles Gepäck und alle Gefahrenen sicher im Hotel abgeladen und einquartiert worden waren, trafen Peter und ich uns auf einen kleinen Stadtspaziergang und waren ziemlich amüsiert. Auf die Frage wo man in diesem Ort ein bisschen Obst kaufen könne, das der heute sehr fiebrige Hans sich gewünscht hatte, wurden wir mit sehr überraschten und irritierten Blicken beäugt.

„Obst? Mhh… Vielleicht irgendwo da oben.“
(vager Fingerzeig in eine grobe Himmelsrichtung)

Unterwegs wurde uns dann klar warum: Dongchuan scheint ein einziges Außenlager der umliegenden Baustellen zu sein. Jedes Geschäft verkauft entweder Baumaterialien oder Kohlenhydrate. Eisenstangen, Holzplatten und Drahtrollen neben Röstkartoffeln, Nudeln, Bratkartoffeln und noch mehr deftigen Sattmachern. Obst? Fehlanzeige! Bis wir dann doch tatsächlich einen Markt fanden, der Einiges im Angebot hatte. Unter anderem ein lustiges Gestrüpp mit schnörkeligen kleinen Auswüchsen, das uns als Frucht angepriesen und schmackhaft gemacht wurde und das tatsächlich auch sehr schmackhaft ist. Die Fruchtvielfalt allerdings war für uns heute das Farbenfroheste – der Rest der Stadt glich zumindest straßenmäßig eher einem großen Trümmerfeld, wo auf der einen Seite mit Presslufthammern aufgehämmert, auf der anderen Seite mit Baggern „aufgefegt“ wurde. Wer braucht schon einen Besen! In China sind die Dimensionen eben anders. Liebhaber des etwas brachialeren Charmes sind heute auf jeden Fall auf ihre Kosten gekommen.

Auf der Mauer

Chinesische Landpartie, 05. bis 27.10.2018

Fahrt nach Huanghua, 34km, 549 Höhenmeter

Am heutigen Tag sollten wir endlich die Mauer erreichen. Doch erstmal dort hinkommen.
Die Wegfindung war kein Problem. Der leichte Pass, wie ich ihn versprochen hatte, erwies sich dann doch als etwas steiler und verlangte uns doch einiges ab. Oben angekommen trafen wir einen Bruder im Geiste, der ebenfalls mit Fahrrad unterwegs war. Er schien auch ein begeisterter Hobbyfotograf zu sein. Aus allen Winkeln und vor verschiedenen Hintergründen lichtete er uns ab.

Die Abfahrt nach dem Pass brachte uns immer näher an die Mauer und eine sagenhafte Landschaft entfaltete sich zu beiden Seiten. Ob es den Anwohnern nach so vielen Jahren auch noch so gut gefällt? Man möchte meinen ja, immerhin stand vor einem der beeindruckendsten Felsmassive ein Sofa in idealer Position. Die weitere Fahrt nach Huang Hua wurde immer wieder durch kleine Fotopausen unterbrochen. Aber soviel Zeit musste sein.

Schließlich hatten wir ein gutes Tempo vorgelegt und brachten sogar noch den Fahrer des Gepäckautos in Verlegenheit, kamen wir doch eine halbe Stunde vor ihm an. Die Fahrräder, die uns gute Dienste geleistet hatten wurden verladen und nun hieß es zu Fuß weiter. Eigentlich schade, ein Stück wären wir doch gerne auf der Mauer entlang gefahren.

Das erwies sich aber als äußerst unrealistisch, wie wir bald sehen sollten. Es war eine echte Kletterei, mit Anstiegen von sicherlich 15 %. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie dieses massive Bauwerk in den Fels getrieben wurde. Nur wenn man sich bewusst wird, dass hier Abertausende Menschen am Bau gewirkt haben, kann man es einigermaßen begreifen.

Die Berge erscheinen ohnehin so schroff, dass kaum ein Mensch sie überqueren kann, geschweige denn eine Armee und dazu noch mit Pferden. Aber die Kaiser werden schon gewusst haben, warum sie eine Mauer bauen. Schließlich war jene Mauer, die wir besichtigt haben (Mingzeit, 16.Jahrhundert) bei weitem nicht die erste. Bereits unter dem ersten Kaiser im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung hatte man mit dem Bau der ersten Mauer begonnen. Weitere Teilabschnitte kamen im Laufe der Geschichte dazu, alle zum selben Zweck, nämlich die Barbaren aus dem Norden vom ungehinderten Eindringen abzuhalten. Gleichzeitig wurden über die Mauer aber auch Handel und Immigration kontrolliert, oder zumindest versuchte man das.

Zwischen uns Reisenden entbrannte bald eine Debatte über die Länge der Mauer. 6000 km hatte es im Reiseführer geheißen. Das konnte doch nicht sein, viel zu lang. Unmöglich. Aber auf Anhieb ließ sich das nicht so einfach nachprüfen, schließlich waren wir weitab von jedem Internet. Doch dann geschah ein Wunder. Plötzlich konnte ich auf meinem Handy das Wlan vom Hotel empfangen, welches etwas mehr als 1km entfernt lag. Mehr als seltsam, wo es doch schon in meinem Zimmer nur sporadisch funktionierte. Ein Phänomen, dass ich mir, bis mir jemand eine bessere Erklärung liefert, nur mit Magie erklären kann.

Tatsächlich wird die Gesamtlänge der Mauer, rechnet man alle jemals gebauten Abschnitte zusammen auf mehr als 21000 km geschätzt. Wir gaben uns vorerst mit den zwei, drei Kilometern, die vor uns lagen zufrieden. Wenn es überhaupt so viele waren. Sowohl aufwärts als auch abwärts war es eine ziemliche Herausforderung die Balance zu bewahren. Kletternd, Steigend, Trippend und teilweise Kriechend wagten wir uns also bis zum unrestaurierten Teil der Mauer vor, wo wir eine längere Pause einlegten. Stille kehrte ein und alle genoßen den Augenblick. Man liest ja viel über die Mauer, hört von anderen die dort gewesen sind und vielleicht denkt man sich “Meh, ist ja auch nur eine Mauer. Guck ich mir sicher irgendwann mal an. Nette Fotos.” Aber wenn man dort ist begreift man erst, warum Millionen Menschen dort jedes Jahr hinpilgern. Ohne Übertreibung wage ich zu sagen, die Große Mauer muss man gesehen haben. Wir haben sie jedenfalls gesehen und das stimmte uns alle mehr als zufrieden. Wir hatten sicherlich auch großes Glück, denn wir waren beinahe allein und so versprühte der Ort eine ungeheure Ruhe, die man sicherlich an touristisch erschlosseneren Abschnitten und zu den Stoßzeiten so nicht erleben kann.

Schweren Herzens begaben wir uns auf den Rückweg. Am Eingang der Mauer noch ein kurzes ornithologisches Fachgespräch mit der hiesigen Restaurantbetreiberin und Mauerwächterin über den Unterschied zwischen Deutschen und Chinesischen Krähen und dann hieß es zurück ins Hotel.
Eine große Kanne Kaffee und eine heiße Dusche später aßen wir dann zu Abend und aßen Fisch aus der hoteleigenen Fischzucht (sehr schmackhaft).
Teilweise fiel es uns schwer uns von unseren Handys loszureißen, schließlich musste die Heimat über unsere Erlebnisse informiert werden.

Morgen geht es zurück nach Peking und zurück in den Trubel. Wir beschloßen kurzerhand, dass wir vor unserer Abfahrt noch ein letztes Mal die Mauer aufsuchen wollen. Wer weiß, wann und ob man nochmal hierher kommt.